Fundgrube für Geschichtsinteressierte: Nachlass eines Kiersper Internisten

Mediziner zu Zeiten des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre:  Der Nachlass des Internisten Dr. Hans Wernscheid aus Kierspe (1889 – 1980) im Kreisarchiv in Altena ist für Geschichtsinteressierte eine wahre Fundgrube. Bei der Erfassung der 64 Archivguteinheiten um die Persönlichkeit des Kiersper Arztes hat Archivarin Katharina Krone spannende Einblicke in ein besonderes Kapitel der Regionalgeschichte gewonnen.

Dr. Hans Wernscheid wurde am 9. Dezember 1889 im Kiersper Ortsteil Benninghausen geboren. Sein Vater Wilhelm war Butterhändler und seit 1888 mit der sieben Jahre älteren Henriette Klüppelberg verheiratet. Hans Wernscheid studierte Medizin in Bonn und Heidelberg, machte in Heidelberg seinen Facharzt für Innere Medizin, arbeitete anschließend an der Berliner Universitätsklinik und kehrte danach als Internist in seine Heimatstadt Kierspe zurück. Da er mit seiner Frau keine leiblichen Kinder bekommen konnte, adoptierten sie den Jungen Erwin Wernscheid.

Ein Anwesen in der Kölner Straße, das die Familie 1938 erwarb, nutzte Dr. Wernscheid zunächst als eine Art Altenheim. Kurze Zeit später wandelte er das Haus in ein Entbindungsheim um, und half dort fortan Kindern, das Licht der Welt zu erblicken. Aufgrund von Platzproblemen zog Dr. Wernscheid in den 50er Jahren nach Wildenkuhlen und eröffnete dort eine Entbindungsklinik mit Praxis, in der er bis in die 70er Jahre tätig war.

Sein Nachlass umfasst unter anderem berufsbezogene Unterlagen wie Patientenbücher bzw. ‐karteien, Schuluntersuchungshefte und Krankenscheine, medizinische Fachzeitschriften, Zeitungsartikel, Werbeanzeigen für medizinischen Bedarf, ärztliches Untersuchungsmaterial und Röntgenbilder.

Karteikarten von Fremd- und Ostarbeitern

Insbesondere die Karteikarten von Fremd- und Ostarbeitern sind eine wertvolle Quelle für Geschichtsforschende. Während des Zweiten Weltkriegs lebten in Kierspe rund 500 zur Zwangsarbeit verschleppte oder unter falschen Prämissen angeworbene Zivilarbeiter aus Polen und der Sowjetunion. Schuften mussten sie in 16 Kiersper Firmen, ihre Unterkunft war das Ostarbeiterlager Ebenstück auf dem Grundstück der heutigen Kirche St. Josef. Über die jeweiligen Firmen waren die „Ostarbeiter“ bei der AOK angemeldet. Dafür mussten sie einen Teil ihres Lohns als Beitrag zahlen und waren im Krankheitsfall oder nach Arbeitsunfällen versichert.

„Die aus der Praxis Dr. Wernscheid überlieferten Krankenunterlagen belegen, wie Zwangsarbeitende zwischen 1939 und 1945 medizinisch behandelt wurden“, konstatiert Katharina Krone. „Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass ihre Versorgung weit hinter den Leistungen für Deutsche zurückblieb. Medizinhistoriker und -historikerinnen könnten anhand der Karteikarten feststellen, ob diese These auch für die Praxis Dr. Wernscheid zutraf.“

Neben medizinischen Fachzeitschriften finden sich in dem Nachlass auch zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften sowie Druckschriften mit NS-Propaganda. Für eine genaue politische Einordnung Wernscheids fehlen im Kreisarchiv aussagekräftige persönliche Unterlagen, doch muss der Arzt zumindest als Befürworter der Eugenik und der Rassenlehre der NSDAP angesehen werden. „In seinen ärztlichen Zeugnissen von Schuluntersuchungen hat Wernscheid Details zur Krankengeschichte und zur Erbgesundheit der jeweiligen Familie vermerkt“, hat Krone herausgefunden. „Diese Angaben notierte er freiwillig auf den Gesundheitsscheinen, ohne dass es hierfür ein Formular oder ein dafür vorgesehenes Feld gab.“ Welche Motive Dr. Wernscheid zu Bemerkungen veranlassten, die verhängnisvolle, ja sogar tödliche Folgen für Schulkinder und ihre Familien haben konnten, kann heute nur vermutet werden.

Früher Einsatz von Röntgentechnik

Röntgenbilder aus den Jahren 1921 bis 1958 dokumentieren, welche Krankheiten und Krankheitsbilder damals in Kierspe verbreitet waren. Dr. Wernscheid setzte bereits in den 1930er Jahre in seiner Praxis Röntgentechnik ein – damals eine Seltenheit, von der viele Patienten profierten. Die vielen Röntgenbilder der Lunge belegen, dass die Menschen damals häufig mit Atemproblemen zu Dr. Wernscheid kamen. Lungentuberkulose war jahrzehntelang die häufigste Einzelerkrankung mit Todesfolge in Deutschland.

Neben den überwiegend schriftlichen Unterlagen enthält der Nachlass auch einige Kuriositäten aus dem ärztlichen Alltag. Operations- und Zahnbestecke, HNO‐Instrumente, Ampullenkästchen und gynäkologische Instrumente sind nur einige der Dinge, die ein Arzt und Internist in den 1930er Jahren griffbereit haben musste. Sie veranschaulichen, dass Ärzte damals medizinisch breit aufgestellt waren, um Krankheiten aller Art behandeln zu können. Neben ihrem Wirken als Allgemeinmediziner waren sie auch als Fachärzte tätig. Für Kierspe war dies lange Zeit Dr. Hans Wernscheid, der seinem Beruf bis ins hohe Alter nachging. Am 13. Juni 1980 verstarb Dr. Hans Wernscheid im Alter von 90 Jahren.

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